Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und damit auch das Thema Big Data beschäftigt uns im Farner Healthcare Communications Team als eine spannende und wegweisende Entwicklung. Umso wichtiger sind aktuelle branchenspezifische Insights und eine Einschätzung der potenziellen gesellschaftlichen Auswirkungen.

Ende November luden die Stiftung Sanitas Krankenversicherung und das GDI in Rüschlikon zur Tagung «Zukunftsmedizin» ein. Im Zentrum der Veranstaltung stand die durchgeführte Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch? Szenarien für ein datafiziertes Gesundheitssystem».

  • Wie wirkt sich die steigende Erhebung von Gesundheitsdaten auf das Solidarprinzip der Gesundheitsversorgung aus?
  • Was bedeutet es für das Verhalten eines Einzelnen und der Gesellschaft, wenn eine künstliche Intelligenz eine wahrscheinliche schwere Erkrankung voraussagen kann?
  • Dient die Nutzung von Gesundheitsdaten zur Kontrolle und Überwachung oder kann sie Menschen dabei unterstützen, ihre Gesundheitsziele zu erreichen?

Diese und andere Fragestellungen wurden von den Referenten diskutiert. Als Speaker waren die Experten Jakub Samochowiec (Senior Researcher, GDI Gottlieb Duttweiler Institut), Andréa Belliger, (Professorin, Theologin und Unternehmerin), Bastian Greshake Tzovaras (Fellow Researcher, CRI) geladen. Das nachgelagerte Panel setzte sich zusammen aus Felix Gutzwiller (Stiftungsratspräsident, Stiftung Sanitas Krankenversicherung), Marcel Salathé (Assistenzprofessor und Leiter des Labors für digitale Epidemiologie an der EPFL) sowie Nikola Biller-Andorno (Leiterin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Zürich), moderiert von Karin Frei.

«Wir reden fast täglich von Solidarität und Gesundheitsdaten, in Zeiten der Pandemie ist das der Courant normal»

Einleitend machte Isabelle Vautravers, Geschäftsleitererin der Stiftung Sanitas Krankenversicherung, klar, wie aktuell das Thema der Veranstaltung ist: «Wir reden fast täglich von Solidarität und Gesundheitsdaten, in Zeiten der Pandemie ist das der Courant normal.» Doch auch abgesehen davon wird das Sammeln, Teilen und Analysieren von Gesundheitsdaten immer einfacher. Sei es mittels Tracking des eigenen Schlafverhaltens, Schrittzählern, smarten Toiletten, die täglich die Darmflora untersuchen, sowie Gensequenzierung. Was bedeutet es nun für die Solidarität, wenn durch ebendiese Gensequenzierung und Kombination weiterer Gesundheitsdaten klar wird, dass man ohne Änderung des eigenen Verhaltens erkranken wird, zum Beispiel an Diabetes mellitus Typ 2? Was ist, wenn mir diese Tatsache bekannt ist, ich aber mein Verhalten nicht ändere und später wie vorausgesagt schwer erkranke? Bin ich dann selbst schuld? Und falls ja, habe ich trotzdem noch ein Anrecht auf eine solidarische Unterstützung? Und was ist mit Menschen, die wissen, dass sie nicht schwer erkranken werden? Mit dieser Ausgangslage stieg Jakub Samochowiec, Senior Researcher am GSI, gleich fulminant ins Thema ein und stellte die entscheidende Frage: «Inwiefern untergräbt die Verdatung der Gesundheit die Solidarität in der Gesellschaft?». Eine immer wiederkehrende Diskussion dazu dreht sich um die Grundversicherung, in die wir in der Schweiz alle einzahlen und so gemeinsam die Kosten in der Krankenversicherung tragen. Auch die aktuellen Debatten zum Tragen von Masken oder Impfungen gehen in diese Richtung. Doch Themen wie der nur sehr gezielte Einsatz von Antibiotika, um nicht noch mehr Resistenzen entstehen zu lassen und das «Spenden» von Daten für die Forschung, damit anderen Erkrankten geholfen werden kann, gehören ebenso dazu.

Die richtige Balance von Vorhersage und Kontrolle: 4 Szenarien

Die sogenannten «Verdatung» und Digitalisierung der Gesundheit mittels der vielen Tools, Gadgets und Analysen kann einerseits zu immer präzisieren Vorhersagen, aber damit einhergehend auch zu immer mehr Verhaltenskontrollen führen. Beispiele sind die Schrittzähler von Krankenversicherungen, über die man Vergünstigungen in der Zusatzversicherung erreichen kann oder die Überprüfung einer Person, nachdem sie die Vorhersage erhalten hat, dass sie ohne Verhaltensänderung schwer erkranken wird.
Im Spannungsfeld dieser beiden Pole, die beide das Potenzial haben, die gesellschaftliche Solidarität zu unterwandern, wurden in der GDI-Studie vier verschiedene Szenarien für den zukünftigen Umgang mit Gesundheitsdaten entwickelt. Wichtig: die Szenarien stellen jeweils eine in sich geschlossene Extremform dar. Wahrscheinlicher ist eine Kombination von mehreren Ausprägungen.


Referent Jakub Samochowiec, Senior Researcher, GDI Gottlieb Duttweiler Institut. Bildquelle: GDI

BIG GOVERNMENT

In diesem Szenario ist ein starker Staat verantwortlich für Gesundheit der Bevölkerung und erhebt Gesundheitsdaten zentral. Auf diese Weise wird Prävention sehr gezielt durchgeführt («prevention on steroids»), da so viele verschiedene Aspekte einbezogen werden. Beispielsweise der Einfluss von Arbeitszeit oder von Umweltverschmutzung auf das Gesundheitsverhalten. Dies bedeutet zwar extrem personalisierte, gut passende und wirkungsvolle Prävention, aber gleichzeitig auch das Vorschreiben von Verhaltensweisen. Was macht der Staat, wenn jemand diesen Kriterien nicht entspricht und sich unsolidarisch verhält? Hier muss mit Sanktionen und Anreizen gearbeitet werden. Oder wie Jakub Samochowiec sich ausdrückte: «Wer nicht passt, wird passend gemacht». Man denkt hier auch an den Social Credit Score, wie er beispielsweise in China eingeführt wurde und genehme Verhaltensweisen belohnt und andere bestraft. Nicht zu vergessen: in diesem Szenario muss der Staat die Fähigkeiten zur gesunden Lebensweise anbieten. Dazu gehören ein funktionierendes und qualitatives hochstehendes Gesundheitswesen, Möglichkeiten um Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren.

BIG BUSINESS

Die Voraussetzung für das Big Business Szenario ist ein völlig deregulierter Gesundheitsmarkt, beziehungsweise die Gesundheitsversorgung findet auf dem freien Markt statt. Menschen mit ähnlichen Risiken schliessen in selbstständig so genannten Peer-to-Peer-Versicherungen zusammen. In diesem Szenario gibt es keine staatlichen Versicherungsgesellschaften mehr. Menschen schliessen sich zusammen und überprüfen gegenseitig, ob sie sich gesund verhalten. Falls nicht, wird man aus dem Risikopool hinausgeworfen und sich gesund zu verhalten wird zur Bedingung für Solidarität. Beispiele: Pay-as-you-live Versicherungen. Ausserdem fungieren grosse Technologie-Anbieter als Anbieter von Ökosystem für Gesundheitsdaten, wie dies beispielsweise bei Apple oder Google schon der Fall ist.

BIG SELF

Die Bedingungen für Solidarität sind hier sehr tolerant ausgestaltet, gleichzeitig ist im Szenario Big Self der Staat sehr stark. Er fördert gesundes Verhalten, in dem er Informationen und Möglichkeiten bietet, sich gesund zu verhalten. Ziel ist, dass das Individuum befähigt wird, sich selbst zu kontrollieren und gesund zu leben. Verschiedene Studien zeigen beispielsweise, dass Menschen, die ihr Verhalten selber monitoren und tracken, sich gesünder verhalten. Beim Big Self Szenario geht es jedoch nicht nur um die Data Literacy, sondern auch um Vorhandensein der entsprechenden Ressourcen, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden. Es geht um die staatliche Befähigung zu gesundem Leben und Selbstverantwortung.

BIG COMMUNITY

Im Szenario Big Community kommt die Solidarität ohne starken Staat aus, denn hier wird sie durch Gemeinschaften hergestellt. Die Gemeinschaft befähigt den einzelnen Menschen zum gesunden Verhalten und im Gegenzug befähigt das Individuum die Gemeinschaft durch das freiwillige Teilen Gesundheitsdaten und Citizen-Science Engagement, als weiterer Aspekt von Solidarität. Zudem wird Vielfalt als (Daten-)stärke angesehen.

Hat der Mensch auch eine gute Seite oder kommt am Schluss immer Big Business in Spiel?

Doch in welche Richtung oder zu welchem Szenario wird die Schweiz in Zukunft tendieren und welche Faktoren sind wichtig, damit die Solidarität in der Gesellschaft erhalten bleibt?
Darüber diskutierte das abschliessende Panel mit Felix Gutzwiller, Marcel Salathé und Nikola Biller-Andorno. Eine optimistische Sicht vertrat Felix Gutzwiller: «Der Mensch hat auch eine gute Seite», und es ist durchaus vorstellbar, dass gesunde Menschen in die Krankenversicherung eine Art «freiwilligen Solidaritätsbeitrag» zahlen würden oder andere netzwerkorientierte Solidaritäten an Relevanz gewinnen werden». «Ebenso wichtig sind Communities, in denen sich bespielsweise Patienten zu Forschungszwecken selbst organisieren. Diese gelte es zu fördern und zu unterstützen», meinte Marcel Salathé, denn innerhalb dieser Gruppen sei das gegenseitige Vertrauen sehr stark und entsprechend auch die Solidarität untereinander». «Bei erfolgreichen Communities, die selbstbewusst auftreten, gut organisiert und vernetzt sind und aus denen ein spannender Datenpool entstehe, käme jedoch irgendwann unweigerlich auch wieder Big Business in Spiel. Doch müsse dies nicht per se etwas Schlechtes sein, wichtig sei einfach, dass der Fokus auf die Patienten und deren Bedürfnisse gerichtet bleibe», wie Nikola Biller-Andorno betonte.


Das Diskussionspanel v.l.n.r.: Moderatorin Karin Frei,
Felix Gutzwiller (Stiftungsratspräsident, Stiftung Sanitas Krankenversicherung), Nikola Biller-Andorno (Leiterin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Zürich), Marcel Salathé (Assistenzprofessor und Leiter des Labors für digitale Epidemiologie an der EPFL). Bildquelle: GDI

Die Mehrheit des Panels war sich einig, dass für die Schweiz das «Big Self» zusammen mit «Big Government» Szenarien realistisch sind. Damit die Solidarität in der Gesellschaft erhalten bleibe, sei zum einen die Resilienz der Bevölkerung gefragt, und zum anderen die Befähigung und das Wissen um eine gesunde Lebensweise wichtig, Stichwort Health Literacy, unabhängig vom sozialen Umfeld und weiteren sozialen Determinanten von Gesundheit.

Die Rolle der Medien und der Kommunikation

Zurückkommenden auf den «Solidaritätsbatzen» von Felix Gutzwiller warf Moderatorin Karin Frei ein: «Was ist, wenn man die Raucher finanzieren muss?» Es sei völlig verständlich, dass man hier zögere, antwortete Ethikerin Nikola Biller-Andorno, doch letztlich gehe es nicht ohne Solidarität. Denn letztlich tut jeder von uns manchmal etwas ungesundes und es braucht die Versicherung, damit man weiss, «wenn es mir wirklich nicht gut geht, sind andere da, die mir helfen». Zusätzlich sei wichtig, dass der argumentative Austausch nicht verloren gehe – «über Evidenzen, die vorliegen, und jene, die nicht vorliegen. Empörung bringt uns in der Sache nicht weiter». Dies bekräftigte auch Marcel Salathé von der EPFL, denn gerade jetzt sei es wichtig, verschiedene Verhaltensweisen nicht gegeneinander auszuspielen.

Auf den Punkt brachte es eine Stimme aus dem Publikum, auch im Hinblick auf das Big Government Szenario. Letztlich könne Solidarität nicht durch den Staat verordnet werden. Denn «wer solidarisch ist, der ist mit dem Herzen dabei».

Fazit:  Letztlich spielen nicht Technologien und Regulatorien die entscheidende Rolle, sondern der gesellschaftliche Umgang damit wie auch Empathie und Interesse am Mitmenschen. Einig war man sich, dass die Kommunikation von behördlicher Seite sowie die der Medien gefragt sei. Letztere hätten es in der Hand, vermitteln zu können und gerade auch in der pandemischen Situation Vertrauen zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen und diese einander wieder näherzubringen. Kommunikation ist entscheidend, um Solidarität für die Zukunft wieder zum Leben zu erwecken.

Zur Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch? Szenarien für ein datafiziertes Gesundheitssystem»: https://www.gdi.ch/de/publikationen/trend-updates/entsolidarisiert-die-smartwatch-das-big-business-szenario