Industrie 4.0, Marketing 4.0, Change 4.0, heutzutage gehört es zum guten Ton, ein bisschen «4.0» zu sein. Und so sind wir auch im HR beim Begriff «Rekrutierung 4.0» gelandet: der Personal-beschaffung, die durch Daten und Algorithmen getrieben ist. Ist diese Entwicklung ein Fluch oder ein Segen?

Sie haben mehrere Bewerbungen für eine Stelle erhalten? Gratulation! Doch die nächste Hürde steht bereits an: Wie finden Sie bloss die passende Person? Willkommen in der Hölle der Eignungstests und -gespräche! Mein persönlicher Rekord? Zwei Tests, zwei Vorstellungsgespräche und eine Team-Kennenlernrunde für einen Einstiegsjob, wohlbemerkt. Während einige Unternehmen ihre Testverfahren auf die Spitze treiben, setzen andere bei der Auswahl ihrer Kandidatinnen und Kandidaten vermehrt auf Künstliche Intelligenz (KI).

Meet Vera: Wenn Maschinen Vorstellungsgespräche führen

Recht beliebt, vor allem bei grösseren Unternehmen sind Tools, die mithilfe von Algorithmen die eingereichten Lebensläufe durchsuchen und diese anhand von sozialen und beruflichen Netzwerken verifizieren. Mit der Corona-Pandemie gewannen ausserdem digitale Vorstellungsgespräche an Bedeutung. Einige Unternehmen nutzten das erste Mal Plattformen, wie Zoom oder MS Teams für das gegenseitige «Beschnuppern», andere setzen bereits länger auf automatisierte Interviews. L’Oréal und IKEA z. B. verwenden seit 2018 den Roboter «Vera», der täglich bis zu 1’500 Gespräche durchführen und anschliessend individualisierte E-Mails versenden kann (Adelmann & Wiedmer, 2020).

Survival of the conformist

Die Technologie in diesem Bereich entwickelt sich ständig weiter. Systeme wie «HireVue» können neben Schlüsselwörtern auch Stimme, Mimik und Körpersprache während standardisierter Interviews analysieren und daraus psychologische Merkmale ableiten. Diese werden mit Merkmalen leistungsstarker Mitarbeitenden oder Informationen zu Stellenanforderungen oder Unternehmenskultur verglichen. Darauf basierend werden die Kandidatinnen und Kandidaten beurteilt. Das Resultat: Ein Ranking, das letztlich über Zu- oder Absage entscheidet. Denn nur die wenigsten Recruiterinnen und Recruiter fokussieren sich auf Profile, die nicht vom System als «Future Top Performer» hervorgehoben wurden (Adelmann & Wiedmer, 2020).

Bei mir löst dieser Trend etwas Bauchweh aus. Frei nach dem Motto «Gleich und Gleich gesellt sich gern» suchen Maschinen zugespitzt gesagt nach «Unternehmenskonformistinnen» oder «Unternehmenskonformisten». Und dies in Zeiten, in denen alle nach mehr Vielfalt und Inklusion lechzen? Schwierig. Doch auch einige KI- und Neuro-Forscherinnen und -Forscher stehen solchen Tools skeptisch gegenüber und bezweifeln deren Fähigkeit, menschliches Verhalten zu interpretieren – gerade auch in einem interkulturellen Kontext (The Washington Post, 2019).

KI im Recruiting: Hui oder Pfui?

Was gewinnt man also mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in Rekrutierungsprozessen? Lassen Sie uns dazu auf drei Aspekte schauen:

  1. Ressourceneinsatz

Das Einsparpotenzial kann riesig sein: Unilever z. B. spart laut eigenen Angaben rund 100’000 Stunden Interviewzeit und ca. 1 Million Dollar Rekrutierungskosten pro Jahr dank HireVue. Die Kosten für die Software sind im Vergleich dazu vernachlässigbar. Ob sich ein Investment in eine KI-Anwendung lohnt, kommt aber stark auf die Unternehmensgrösse und die durchschnittliche Anzahl der zu besetzenden Stellen an.

  1. Entscheidungsfindung und Diversity & Inclusion

Auf den ersten Blick scheint die künstliche Intelligenz in dieser Hinsicht überlegen: Maschinen sind objektiv und treffen deshalb vorurteilsfreier Entscheidungen als Menschen. Ganz so einfach ist es leider nicht. Zwei Dinge müssen wir uns zwingend vor Augen führen:

  • Maschinen benötigen eine grosse Anzahl Trainingsdaten in hoher Qualität: Damit sie lernen können – gerade KMUs haben diese selten zur Verfügung.
  • Damit Maschinen objektiv entscheiden können, benötigen sie vorurteilfreies Training: Wenn vergangene Einstellungsentscheidungen basierend auf Vorurteilen getroffen wurden, wird ein «lernender» Algorithmus diese übernehmen und eventuell sogar verstärken. Bei Amazon kam es z. B. zu einer ungewollten Diskriminierung von Frauen. Die Belegschaft bestand früher vorwiegend aus Männern. Allein das brachte den Roboter dazu, Männer für geeigneter einzustufen.
  1. Candidate Experience

Die Candidate Experience kann sich beim Einsatz von künstlicher Intelligenz durchaus verbessern – vor allem aufgrund schnellerer Reaktionszeiten. Andererseits kann es sich meiner Meinung nach sehr befremdend anfühlen, zuerst eine Maschine beeindrucken zu müssen, bevor man würdig genug ist, Zeit des Unternehmens zu erhalten.

Fazit: Es ist nicht ganz so einfach

Die «Veras» dieser Welt können die Personalarbeit stark entlasten, das Einsparpotenzial kann riesig sein. Genauso gross sind aber auch die Herausforderungen. Jenseits von Kosten-Nutzen-Überlegungen sollten wir uns auch fragen, ob es ethisch vertretbar ist, wenn Maschinen über das Schicksal von Menschen entscheiden. Die Rolle von menschlichen Recruiterinnen und Recruiter wird meiner Meinung nach deshalb auch in Zukunft von hoher Bedeutung sein.

Wie ist Ihre Meinung dazu? Kontaktieren Sie mich gerne auf LinkedIn für einen virtuellen Kaffee. Ich verspreche: Es kommt kein Roboter!

Dies ist der vierte Artikel aus unserer Serie, hier gibt’s mehr:

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